Jürgen Deller im Interview: Glücklich von Vollzeit zu Freiheit

Mit dem demografischen Wandel altert Deutschland. Wie können Arbeitnehmer und -geber diese Herausforderung meistern? Dafür entwickelt Prof. Dr. Jürgen Deller den Later-Life-Workplace-Index (LLWI). Er lehrt seit 2000 Wirtschaftspsychologie an der Leuphana Universität und ist seit 2013 wissenschaftlicher Direktordes Silver Workers Research Institute in Berlin. Er ist Mitgründer und Vorstand des Goinger Kreises – Initiative Zukunft Personal & Beschäftigung e.V. Dort wirkte er in vielen Projekten mit, oft auch mit Studierenden, zum Beispiel zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten. Er ist zudem im Landesvorstand Niedersachsen des Deutschen Hochschulverbands.

Der Renteneinstieg hat im Durchschnitt einen positiven Einfluss auf die psychische Gesundheit, kann aber auch ein Risiko für diese sein. Wieso? 

Immer dann, wenn sich die Lebenssituation gravierend ändert, müssen wir uns anpassen. Genau das passiert beim Renteneinstieg. Die Menschen verlieren mit ihren regelmäßigen Arbeitszeiten die Tagesstruktur, mit der Mittagspause die Sozialkontakte und auch neue berufliche Erfahrungen. Das vielfältige Leben ist von heute auf morgen verwandelt. All das müssen sie nun aktiv gestalten. Und das haben einige verlernt. Sie können zwar endlich ihre Träume erfüllen, mal Urlaub machen oder den Keller aufräumen. Doch dieses „endlich“ ist verdammt endlich. Viele fallen in ein tiefes Loch. Sie merken: „Mir fehlt etwas. Mir geht es schlecht. Was mache ich nur?“
Sogenannte Anpassungsstörungen sind zunächst keine schweren Depressionen, sondern Verstimmungen, Antriebslosigkeit, Müdigkeit, Gereiztheit… Sie sind völlig normal und erreichen typischerweise nach einem halben Jahr einen Tiefpunkt. Dann nehmen Betroffene ihre Kräfte zusammen und fragen: „Was macht mir Spaß, wenn ich es nicht tun muss? Wie gestalte ich mein Leben so, dass es mir Freude bereitet?“ Das sind natürliche Selbstheilungskräfte. Aber sie brauchen Zeit.

Wie gelingt der Wechsel von Vollzeit zu Freizeit?

Wir tun so viel, um junge Menschen auf den Arbeitsmarkt zu bringen, und wir tun nichts dafür, älteren Menschen in den Ruhestand zu helfen. Dazu gibt es weltweit kaum Forschung. Darum müssen sich Arbeitnehmer (noch) selbst kümmern. Um einen gleitenden Übergang vorzubereiten, können sie früh fragen: „Was will ich weiter tun? Worauf habe ich immer gewartet? Wie kann ich damit bereits beginnen?“
Auch Arbeitgeber sind an rechtzeitiger Planung interessiert, denn mit den Babyboomern verschwinden erfahrene Fachkräfte vom Arbeitsmarkt. Sie können strategisch analysieren: „Welche Kompetenzen brauchen wir weiterhin an Bord? Wie können wir langjährigen Mitarbeitern bis zur Rente und auch danach einen attraktiven Platz anbieten?“
Am besten überlegen Arbeitgeber und -nehmer bereits ein bis zwei Jahre zuvor, woran beide Interesse haben. Projekte und Teilzeit sind nun auch digital möglich – zum Beispiel von Lanzarote statt Lüneburg, solange es dort WLAN gibt (lacht). Wir können viel flexibler sein, als wir glauben! Und das ist nötig, denn es ist nicht jeder wie der andere. Wir brauchen bunte Lösungen für bunte Welten. Gemeinsam gestaltete Arbeitsbedingungen genießen Ältere und Jüngere. Und die altersgemischte Teams sind produktiver. So profitieren auch Unternehmen. Mein Tipp: maßgeschneiderte Lösungen für jedes Team, nicht solche von der Stange. Es muss passen!

Was würden Sie gerne den Menschen in Lüneburg sagen?

Ich wünsche mir, dass Universität und Zivilgesellschaft viel mehr zusammenarbeiten. Denn beide Seiten haben ihre Stärken. Ich möchte zu mehr Offenheit für Veränderungen einladen – auch ökonomisch. Unternehmensgründung ein beispielhafter Schwerpunkt der Leuphana. In der Stadt haben sich erfolgreiche Unternehmen entwickelt wie webnetz, das Firmen bei Internetauftritten mit Amazon oder Instagram unterstützt. Lasst uns gegenseitig wertschätzen und aufeinander zugehen, damit wir mehr Erfolgsgeschichten schreiben.

Hinweis: Die Lehre vom Altern heißt Geriatrie. Auch in Lüneburg gibt es Spezialisten für Altersdepressionen. Mehr Informationen bietet die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen e.V. (www.bagso.de).

Later-Life-Workplace-Index

„Wenn wir ein Haus mit guten Arbeitsbedingungen für Ältere bauen, steht das auf sieben Säulen“, so Prof. Dr. Jürgen Deller. Anhand derer können Betriebe ihre Vorbereitung auf den demografischen Wandel einschätzen, vergleichen und verbessern. Mit dem kostenlosen Instrument steigert zum Bei- spiel die Deutsche Bundesbank bereits Gesundheit, Motivation und Leistung. Forscher entwickeln Versionen in zahlreichen Ländern wie China, Israel, Portugal. Auch aus dem LLWI entwickelte Deller als Delegierter des Deutschen Instituts für Normung (DIN) die neue Norm 25550 International Standards Organisation (ISO) mit. Sie beschreibt, wie Organisationen weltweit optimal mit alternden Belegschaften umgehen können. Das zeigt: Gute Arbeitsbedingungen bewegen die ganze Welt.

Interessierte können sich an Julia Finsel (finsel@ uni.leuphana.de) wenden und finden hier mehr Infos: www.leuphana.de/portale/later-life-workplace-index.html
Later Life Workplace Index (LLWI)

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