Ein goldener Fußabdruck ist möglich!

Die nächste industrielle Revolution mit Cradle to Cradle: Essbare Schlafanzüge und luftreinigende Teppiche – unvorstellbar? Der Leuphana-Forscher Michael Braungart erfindet innovative Kreislaufprodukte in Lüneburg und lädt auf einen Besuch ins Museum Zukunft.

Im Herzen von Lüneburg führt die verwinkelte Papenstraße zu einem tiefgrünen Holztor, das die Nummer 15 zeichnet und den Blick auf einen idyllischen Hof öffnet. Unter jahrhundertalten Sommerlinden summt und brummt es friedlich; im wilden Garten sprießen Kräuter und in selbstgebauten Hochbeeten reifen Dill, Tomaten, Lauch… Hier liegt das Museum Zukunft.

Michael Braungart entwickelt dort sein Kreislaufkonzept Cradle to Cradle. Auf den Eingangsstufen des historischen Bauwerks erzählt er, wie alles begann: Bereits als Jugendlicher habe er einen Fernseher auseinander geschraubt und gefragt, ob Menschen die 4361 darin enthaltene Chemikalien kaufen oder einfach nur fernsehen wollten. Damals erntete er Kritik, mittlerweile bereist und begeistert er die ganze Welt. Seit 1994 kehrt der Professor für Öko-Design stets an die Leuphana zurück – mit Zwischenstationen an Elite-Universitäten wie Harvard und Princeton, von Besuchen bei brasilianischen Urvölkern und dem Dalai Lama. Heute ist Braungart auch Vorsitzender des Hamburger Umweltinstituts e.V., welches 2017 den ehemaligen Kinderhort in der Lüneburger Altstadt zum Museum Zukunft verwandelte.

Das Problem: Viele Alltagsrodukte enthalten Schadstoffe, die unsere Körper über Hautkontakt oder Atemwege aufnehmen. Zum Beispiel ein Paar Schuhsohlen verteilt über 100mg Mikroplastik pro Jahr – vom Abrieb der Autoreifen ganz zu schweigen – und das bleibt für hunderte Jahre in der Umwelt. Gleichzeitig verbaut die Industrie wertvolle Materialien untrennbar miteinander. „Aus einer Autokarosserie mit fast 50 Legierungen kann nachher nur primitiver Baustahl gefertigt werden“, erklärt der Chemiker. Gemischt, geschmolzen und geformt verliert das Metall an Qualität; es ist nie mehr rein verfügbar. Nach wenigen Wiederholungen dieses „Downcyclings“ müssen Reste deponiert oder verbrannt werden.

Schon Albert Einstein wusste, dass kein Problem mit derselben Perspektive gelöst wird, unter der es entstanden ist. Darum entwickeln Braungart und seine Mitarbeiter neue Geschäftsmodelle mit und für Unternehmen. Beim Design der Produkte wird ihr ganzes Leben mitgedacht: von den Rohstoffen über ihre Veredlung und Nutzung bis zur Entsorgung. Und die ist wirklich sorgenfrei, denn alle Bestandteile können entweder vollständig im technischen Kreislauf wiedergewonnen oder vom biologischen Kreislauf abgebaut werden – von der Wiege bis zur Wiege eben. 

Kann uns die Cradle to Cradle-Vision retten? Das sei eine Geschwindigkeitsfrage! „Deshalb arbeiten wir mit Hochdruck an Lösungen“, so Andreas Hußendörfer, der das Museum gemeinsam mit Gerhard Cassens leitet. Er glaubt: „Wenn viele wenig tun – zum Beispiel umwelt- und menschenbewusst einkaufen – wird wenig viel.“ 11.000 Produkte sind bereits zertifiziert; 200 Exponate zeigt das Museum Zukunft. Hier ist alles dabei: von Farben über Putzmittel bis zu Dachziegeln. Erfinder Braungart stellt vor: „Beispielsweise sind die Sitzbezüge in S-Bahnen so giftig, dass sie als Sondermüll verbrannt werden müssen. Also haben wir Textilien entwickelt, die quasi essbar sind und später Blumen als Nährstoffe dienen können. Sie werden schon in Zügen und Flugzeugen angewandt, Zuschnitte für die Landwirtschaft in praktisches Vlies geformt“. Im Keller wachsen Edelpilze auf Kaffeesatz von Lüneburger Cafés – die Idee zweier Leuphana-Studentinnen. Menschen mit guten Ideen ermutigt Braungart: „Macht was draus!“ Sein persönlicher Triumph in der Ausstellung: der Fernseher ohne seltene Mineralien aus nur 300 Komponenten, die in einem Enzym-Bad simpel voneinander löst und dann wiederverwendet werden können.

Damit das funktioniert, brauchen alle technischen Waren ein Pfand, fordert Braungart. So setzen Unternehmen bereits bei der Entwicklung auf hochwertige Materialien, weil sie diese zurückgewinnen. Kunden kaufen dann nicht mehr das Produkt, sondern mieten seinen Nutzen wie eine Dienstleistung – und das zu fairen Preisen. Statt eines Büroteppichs besitzen sie nun eine luftfilternde Bodenverpackung auf Zeit, die ausgebaut und -getauscht werden kann! Was passiert mit den genutzten Fasern? Sie werden aufgespult und zu neuen Teppichen verarbeitet. Ein Haus wiederum würde zur Materialbank, denn seine Wände müssten nicht abgerissen, sondern könnten verkauft werden – für gleiche oder andere Zwecke. Zahlreiche Erfolgsgeschichten zeigen, dass es funktioniert: Unternehmen ändern ihre Geschäftsmodelle, wenn es wirtschaftlich vernünftig ist. Die Herstellung von Cradle to Cradle-Produkten sei oft günstiger, „weil wir Intelligenz beim Entwurf einsetzen, statt bei der Entsorgung“, so Braungart. 

„Wenn wir im gleichen Tempo weitermachen, ist die Weltwirtschaft bis 2050 transformiert“, überschlägt der Pionier stolz. Das sei nicht genug, denn ihre Zerstörung sei sehr viel schneller. Die nächste industrielle Revolution brauche eine neue Philosophie: „Es geht um ein umfassendes Verständnis von Qualität, Innovation und Schönheit – nicht um Nachhaltigkeit, denn die erstrebt lediglich, Bestehendes zu erhalten.“ Öko-Effektivität ist das Stichwort: „Wir müssen nicht weniger schädlich sein, sondern nützlich!“ Reuse, reduce, recycle war gestern. Heute zählt rethink, reinvent, redesign. Der einzige begrenzende Faktor sei die menschliche Kreativität. Cradle to Cradle könne „Hoffnung für eine Umweltdiskussion spenden“, die jahrelang von apokalyptischen Schlagzeilen dominiert wurde. Das Museum Zukunft bietet Raum für faszinierende Begegnungen. Seminare, Workshops, Diskussionen – der Austausch soll inspirieren und die Botschaft ist klar: Alle Menschen sind eingeladen, Kreislaufwirtschaft in Lüneburg mitzugestalten.

Buchempfehlung:

Einfach intelligent produzieren.

Michael Braungart und William McDonough.

Berliner Taschenbuch Verlag, 2003. 

Dieser Artikel wurde im Lüneburger Stadtmagazin Quadrat 9-2021 leicht verändert erstveröffentlicht. Bildrechte: Michael Braungart.

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