Die Verhaltensökonomin Prof. Dr. Luise Görges erforscht, wie soziale Normen und das Geschlecht ökonomisches Verhalten in der Gesellschaft beeinflussen. Nach ihrem Studium in Berlin und Warwick promovierte sie an der Universität Hamburg und erhielt 2019 den Genderpreis für ihre Doktorarbeit zum Thema „Economic Analysis of the Impact of Gender Norms and Female Labour Supply“. Im September desselben Jahres wechselte sie als PostDoc an das Luxembourg Institute of Socio-Economic Research. Seit Oktober 2020 ist sie Junior Professorin für Volkswirtschaftslehre, insbesondere Mikroökonomik, an der Leuphana Universität.
Frau Görges, in nahezu allen Ländern der Welt übernehmen Frauen mehr unbezahlte Arbeit und Männer mehr bezahlte Arbeit. Das ist auch in Deutschland nicht anders, vor allem bei heterosexuellen Paaren mit Kindern. Welche Vorteile hätte dagegen eine egalitäre Arbeitsteilung von Paaren?
Aus ökonomischer Perspektive gibt es drei Vorteile: Erstens kann es sein, dass Partner und Partnerin zufriedener sind, wenn sie gleichberechtig an den Lebensbereichen Familie und Karriere teilhaben können.
Zweitens sind sie im Trennungsfall abgesichert. Nach langer Auszeit vom Arbeitsmarkt steigt eine auf den Haushalt spezialisierte Person mit geringerem Einkommen wieder ein. Ökonominnen und Ökonomen sprechen davon, dass in der Zwischenzeit Humankapital abgeschrieben wurde (lacht).
Drittens gäbe es für Unternehmen keine Anreize, bei Personalentscheidungen bestimmte Geschlechtergruppen zu bevorzugen, wenn Männer und Frauen mit gleicher Wahrscheinlichkeit am Arbeitsmarkt ausfallen, um Kinder zu betreuen. Besetzen Unternehmen eine Position mit Führungsverantwortung, so ist es ökonomisch oft sinnvoll, Menschen zu wählen, die der Funktion mit großer Wahrscheinlichkeit lange erhalten bleiben – zumindest statistisch. Dabei spielt keine Rolle, ob ein Individuum tatsächlich beabsichtigt, zeitweise aus dem Beruf auszusteigen. Solange es im Durchschnitt einen Unterschied gibt, ist die ungleiche Behandlung aus Sicht des Unternehmens rational. Das beeinflusst die Familienplanung von Paaren: Wenn sie erwarten, dass die Partnerin eher Diskriminierung erfährt, ist es auch hier sinnvoll, in die vielversprechendere Karriere des Partners zu investieren.
Viele Studien dokumentieren die Vorteile von diverseren Arbeitsumfeldern. Das ist natürlich ein gutes Argument. Allerdings stellt sich aus meiner Sicht unabhängig davon die Frage, ob wir als Gesellschaft eine systematische ökonomische Ungleichheit zwischen Geschlechtern weiterhin akzeptieren wollen.
Wie ermöglichen wir eine Gesellschaft mit geschlechtsunspezifischer Arbeitsverteilung?
Spezialisierung in Haus- oder Erwerbsarbeit bringt gewisse Effizienzvorteile. Um Ungleichheit zu beseitigen, muss man diese Spezialisierung nicht unbedingt abschaffen, sondern dafür sorgen, dass sie weniger entlang von Geschlechterlinien verläuft.
Es gibt zwei Möglichkeiten dafür: Einerseits können Familien häufiger nicht-traditionelle Modelle wählen, in denen Mütter den Lebensunterhalt sichern und Väter die Kinderversorgung übernehmen. Dann wäre Arbeitsteilung immer noch stark spezialisiert, aber die Rollen zwischen Geschlechtern im Durchschnitt gleich verteilt. Andererseits kann Spezialisierung reduziert werden, indem diese Aufgaben in den Partnerschaften gleichmäßig untereinander aufgeteilt werden.
Für beide Wege gibt es geeignete politische Maßnahmen: Eine Frauenquote könnte sowohl für Familien Anreize zum Rollentausch setzen, als auch für Unternehmen zu mehr Vereinbarkeit von Kindern und Karriere, beispielsweise durch Homeoffice oder Teilzeit. Die Herausforderung ist, Organisationsstrukturen so umzubauen, dass sowohl Männer als auch Frauen trotz Betreuungspflichten arbeiten können.
Meines Erachtens heißt es zu oft: Berufliche Entwicklung und Verantwortung in Teilzeit, das funktioniert einfach nicht.
Wie kann Ihre verhaltensökonomische Forschung die Wirklichkeit verändern?
Lange Zeit analysierte die Ökonomik vor allem Effekte von finanziellen Anreizen auf Verhalten, zum Beispiel wie Elterngeld die Erwerbsbeteiligung von Müttern verändert. Das sind „Brot und Butter“ der Ökonomen und hat unmittelbaren Einfluss auf die Politik.
Mich interessiert in meiner Forschung, wie gesellschaftliche Geschlechternormen mit finanziellen Anreizen interagieren und auf ökonomische Entscheidungen wirken. Was übersehen wir bei der Entwicklung politischer Maßnahmen?
In Zukunft werden wir große Debatten darüber führen, ob Regierungen überhaupt gezielt Normen beeinflussen dürfen. Ein klassisches verhaltensökonomisches Beispiel ist die Organspende: Obwohl es viel zu wenig Organspenden gibt, müssen Menschen ihre Bereitschaft in Deutschland aktiv anmelden. In vielen Ländern dagegen ist die Organspende Standard, solange niemand verzichtet. Die Änderung dieser Voreinstellung bei gleichbleibender Wahlfreiheit erscheint so simpel, doch wird sie als äußerst starker Eingriff des Staates gewertet und hängt eben auch mit Normen zusammen. Es ist eine Illusion zu glauben, dass es im Status Quo unserer Gesellschaft keine Beeinflussung gibt. Ich denke, dass eine ökonomische Gleichstellung zwischen allen Geschlechtern ein politisches Ziel ist, das die Beeinflussung von Normen rechtfertigen kann.
„In Zukunft werden wir große Debatten darüber führen, ob Regierungen überhaupt gezielt
Normen beeinflussen dürfen.“
Dieser Artikel wurde im Lüneburger Stadtmagazin Quadrat 5-2021 leicht verändert erstveröffentlicht. Die Bildrechte liegen bei ©Leuphana Lüneburg/Marvin Sokolis.